Können wir irgendwo privat chatten? - die Frage kommt in einem öffentlichen Chat von jemandem, den ich noch nie zuvor persönlich getroffen hatte. Bisher hatten wir zusammen mit vielen anderen nur lockeren Smalltalk, eher selten persönliches. Was dann kam hätte ich nie erwartet. Kennst Du den Spruch '"Along the road, not across the street"?
Ein Mensch mitten im Leben*, mit Freundeskreis online wie offline und mindestens durchschnittlichen familiären Bindungen erklärt mir - einem fast völlig Fremden - wann und wie das Ende kommen soll. Es ist nicht das erste Mal (irgendwie scheine ich solche Fälle anzuziehen) und ich bin kein Psychologe. Hier tobt gerade ein innerer Kampf zwischen Exit-Strategie und rationalem Denken.
Ich bin da. Schriftlich erreichbar und bei so etwas im Zweifelsfall auch zu jeder Tages- und Nachtzeit. Falls doch mal nicht - sei es Kino, Flugzeug oder ähnliches - melde ich mich ab. Wir schreiben viel hin und her. Ein auf und ab der Gefühlswelt, mal geht es besser, mal schlechter. Das Schreiben scheint zu helfen, aber noch wichtiger ist die Erreichbarkeit: Da, am anderen Ende des Chats, ist ein Anker. Das ist die eigentliche Hilfe: Die Gewissheit, mit einem Griff zum Handy jederzeit mit jemandem sprechen zu können, der im Gegensatz zur Umwelt über das Gefühlschaos Bescheid weiss.
Ich bin kein stiller Zuhörer, sondern antworte, frage vorsichtig nach und sage meine Meinung. Der Chat ist keine Einbahnstraße, nicht der leichte Weg wie ein Tagebuch, dass still alles erträgt, was (in) ihm geschrieben wird.
Dann, eines Tages, geht die Gefühlskurve steil nach unten. Heute Nacht soll Schluss sein, der vermeintlich leichte Ausweg. Nur die simple Entfernung hindert mich daran, alles stehen und liegen zu lassen und ins Auto zu steigen, immer in der Hoffnung, noch etwas verhindern zu können.
Ich habe den Tod noch nie akzeptiert. Ich lasse ihn nicht an mich heran, verdränge ihn so gut es geht, bis es nicht mehr geht. Jeder hat seine Form der Bewältigung und die Quittung bekomme ich jedes Mal, wenn ich an einem der Gräber stehe, deren Bewohner mir nahe standen. Den Tod meiner Großmutter habe ich bis zur Beerdigung verdrängt. Als mein Vater starb, saß ich am übernächsten Tag planmässig zu einem 14 Stunden Arbeitstag im Zug. Es ist bei weitem nicht die beste Methode der Bewältigung, aber es ist meine. Dazu gehört auch, um jedes einzelne Leben zu kämpfen, wenn es mir möglich ist.
An diesem Abend konnte ich nichts machen, außer schreiben. Ausnahmsweise hat das nicht gereicht. Aber er war doch da, der Funken Überlebenswille. Mit seiner Hilfe saß mein Chatpartner schließlich in einer psychologischen Notaufnahme und bekam kurzfristig die notwendige professionelle Hilfe. Dann kam der nächste Tag und ganz langsam ging die Kurve wieder nach oben.
Diese Geschichte trug sich - ziemlich genau so - vor einigen Jahren zu. Heute sind wie befreundet und schreiben mal mehr mal weniger, aber über freundlichere Themen. Nur gelegentlich, ganz selten, kommen sie noch durch, die dunklen Gedanken. Dann bin ich wieder der Anker.
Modeerscheinung...
Erst vor ein paar Monaten wurde ich - auch in einem öffentlichen Chat - aufgeklärt, dass eine Chatpartnerin schwere Depressionen hat. Aber Psychologe oder Medikamente braucht sie nicht, sie schafft das auch alleine. Wichtig war eigentlich nur, dass der Hausarzt die Depressionen diagnostiziert hatte. Zweifelsfrei, aber mehr als ein bisschen Mitleid braucht sie dann doch nicht.
Solche dummen Sprüche machen mich sauer. Sie schaden denen, die tatsächlich unter dieser heimtückischen Krankheit leiden. Nach diesen Kriterien gehöre ich auch dazu: Schwere Depression - ich schreib mich dann jetzt mal ab. Tschüss.
Wie jeder Mensch habe ich auch Tage, an denen ich am liebsten im Bett bleiben möchte. Trotzdem schaffe ich es irgendwie, Zoe in die Schule und Robyn zur Tagesmutter zu bekommen, bevor mich die Arbeit verschlingt. Die Nerven liegen blank, aber trotzdem steht Abends etwas essbares auf dem Tisch und wenn die Kinder im Bett sind, breche ich auf dem Sofa zusammen. Klingt schlimm, oder? Der pure Horror von Leben.
Dabei ist es nur genau das: Leben. Ganz normal. Jeder hat mal solche Tage und fast immer sind es wirklich nur einzelne Tage. Dann quält man sich von Pflicht zu Pflicht und ist froh, wenn endlich das Bett ruft.
...vs. Realität
Echte Depressionen sind etwas ganz anderes. Wer darunter leidet, schafft es eben nicht, aus dem Bett zu kommen und seine Pflichten zu erledigen. Sich selbst daraus wieder zu befreien, ist unmöglich. Es gibt nur eine Richtung: Abwärts, tiefer rein in das, was man als Todesspirale des Selbstmitleids beschreiben könnte. Ich bin kein Mediziner, aber habe viel mehr Erfahrungen - aus dem echten Leben, nicht nur aus Chats - damit gemacht, als mir lieb ist.
So viele, dass ich schließlich selbst beim Psychater saß. Nicht meinetwegen, sondern um über "unseren gemeinsamen Patienten" zu sprechen - selbstverständlich mit vollem Wissen und Einverständnis des Betroffenen. Gesprochen haben wir insgesamt vielleicht 20 Minuten, aber diese Gespräche geben mir heute noch einen Leitfaden.
Eine Empfehlung - von der ich noch nicht einmal sicher bin, ob sie allgemein zutreffend ist - möchte ich gerne weitergeben: Lass einen depressiven Menschen nicht in seiner schwarzen Wolke.
Sag Niemals nie
Ich möchte einen Selbstmord nicht pauschal verurteilen. Wer schon einmal ein Hospitz besucht hat, kann sich leicht Situationen vorstellen, in denen der Tod wirklich ein oder sogar der einzige Ausweg ist. Wenn Körper und Geist aber noch (weitgehend) intakt sind, fehlt mir das Verständnis und die Bereitschaft, einfach aufzugeben.
Die echten Selbstmordgedanken, die ich erlebt habe, waren tief im Verborgenen. Arbeitskollegen, Familie und Freunde hatten keine Ahnung. Die Angst vor einer Vorverurteilung ware zu groß.
Und jetzt?
Es gibt kein Patentrezept. Mein Weg hat bisher funktioniert: Ich habe noch niemanden "verloren", der sich mir anvertraut hat (und diese Zahl ist glücklicherweise einstellig). Nur eines ist - im wahrsten Sinne des Wortes - tödlich: Nichts tun. Sonst steht am Ende die unerfreuliche Erkenntnis, warum "Along the road" keine gute Idee ist.
Sich mit so einem Thema überfordert zu fühlen, ist vollkommen in Ordnung. Dann hilft - Suizidgefährdetem und Angesprochenem - zum Beispiel die Telefonseelsorge, die anlässlich des Welttag der Suizidprävention eine Blogparade gegen Suizid ins Leben gerufen hat, für die dieser Beitrag ist.
* Selbstverständlich schreibe ich hier keine Namen. Die Geschichte ist ausreichend genau wiedergegeben um den Inhalt zu transportieren und selbstverständlich nur mit Einverständnis der Person veröffentlicht.
5 Kommentare. Schreib was dazu-
Justine
12.09.2017 20:25
Antworten
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Alicja von LostBehindTheMirror
12.09.2017 20:38
Antworten
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Bianca
13.09.2017 15:04
Antworten
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payoli
31.01.2018 16:46
Antworten
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Sebastian
31.01.2018 20:27
Antworten
Es ist wichtig dieses Thema weiter anzusprechen.
Immer wieder. Egal, wie vielen gesunden Menschen es bereits zu den Ohren rauskommt. Es ist leider noch immer so, dass Selbstmitleid und Depression gern zusammengepackt werden. Das sorgt natürlich dafür, dass unglaublich viele Menschen Angst haben sich einzugestehen das sie leiden.
Menschen wie dich, Anker, haben leider die wenigsten. Entweder weil das Umfeld nicht zuhört, oder weil sie sich nicht trauen darüber zu sprechen. Beides kann dafür sorgen, dass es bis zum Ende so weiter geht.
Ich bin durchaus froh, dass viele Menschen auch bei einem Versuch des frei Tods durch den letzten Funken Überlebensinstinkt bei uns bleiben. Leider werden gerade diese Überlebenden oft angefeindet. Die meisten Menschen verstehen nicht, wie es ist nicht Leben zu wollen. Schuldgefühle von Freunden und Bekannten helfen dabei natürlich noch weniger.
Alles in allem ist dieses Thema unglaublich groß. Der Einzelfall ist entscheiden, und du hast jemanden sehr geholfen. Das ist toll!
Doch auch wenn es anders ausgegangen wäre, muss man das akzeptieren.
Es gibt leider Fälle die weder in Therapie noch mit Medikamenten einen Weg raus aus dem Loch finden. Das ist mehr als traurig, doch ein Umfeld kann nicht mehr sein als ein Anker.
Etwas was mir in den wirklich schlimmen Löchern immer hilft ist dieser Gedanke:
Was, wenn ich es beende und es dann nicht aufhört?
Klingt erstmal komisch, aber ich kann mir nichts schlimmeres vorstellen, als wenn ich statt dem großen Nichts nochmal ein neues Leben beginnen müsste - oder vielleicht sogar das Alte. Denn dann müsste ich ja all den Schmerz noch einmal ertragen.
Dann doch lieber weiter machen und hoffen, dass ich das schlimmste schon hinter mir habe.
Liebst
Justine
Danke für diesen Einblick, genauso Menschen wie Du, mit etwas Ahnung, Empathie und Souveranität im Umgang mit Betroffenen haben, braucht es viel viel mehr.
Ich habe selber meine "Anker", sie sind so wichtig, sie retten Leben und noch viel wichtiger, denn das ist nicht wirklich deren Aufgabe, sie sind DA, sie machen Alles etwas erträglicher, das ist das, was so wichtig ist.
Danke für diesen Text.
Danke für das, was Du tust.
Danke für Deine Erfahrungen! Es ist irgendwie immer schwierig, zu erklären, was Deppressionen wirklich sind und wie erschreckend sie sich zeigen können. Hut ab vor Deinem Tun!
Ich bekämpfe meine Dämonen auch immer wieder, endlos und schmerzhaft. Aber es gibt dadurch auch viele helle Momente mittlerweile.
So richtig fassungslos und verzweifelt aber ist man erst, wenn man weiß, dass 90- 95% all dieser Probleme und Verzweiflungstatengesellschaftlich 'hausgemacht' sind, durch unsere grottenfalschen, aber üblichen Lebensweisen.
Und der Überkick: Ist jemand ersteinmal in einer Depri kommst Du auch nimmer ran an ihn. Da ist ihm schon alles, auch wenn's noch so einfach wäre, wurscht.
Man kann es sich so einfach machen, aber auch in der schlimmsten Depression sind die Betroffenen erreichbar. Dann durchzudringen kostet einiges an Durchhaltevermögen und persönlichem Einsatz.