Eine Person jenseits der 60 im Krankenhaus zu besuchen, ist nicht unbedingt ungewöhnlich. Wenn es sich allerdings um eine Entbindungsklinik handelt, dürfte diese Altersgruppe nicht gerade zu den üblichen Patienten gehören. Trotzdem war ich heute dort, zum Krankenbesuch - und traf eine Dampfwalze.
Manch einer mag jetzt einwenden, solche Kliniken wären üblicherweise aufs Gynäkologische spezialisiert und der weibliche Körper bietet durchaus auch noch im nicht mehr gebährfähigen Alter ausreichend Reparaturmöglichkeiten - in diesem Fall handelt es sich allerdings wirklich um eine reine Geburtsklinik - bis auf diese eine Station, bei der es sich - logischerweise - um eine onkologische Intensivstation handelt.
Vor ein paar Wochen hatte ich dieses Thema, über das ich kaum bloggen kann, bereits angerissen und seitdem hin und wieder etwas dazu geschrieben, aber eigentlich habe ich es ziemlich verdrängt. Krebs ist unter anderem so tückisch, weil man ihn nicht sieht: Geht es dem Opfer wieder etwas besser, scheint alles in Ordnung (ok, abgesehen von einer besonders fähigen Pflegedienstmitarbeiterin, die eine kräftige Portion Luft in den Port und damit fast direkt ins Herz spritzen wollte). Aber nichts ist in Ordnung.
Gestern war OP-Tag. Ist es beruhigend zu wissen, dass sich der Operateur für den Tag nichts anderes als diese eine Operation vorgenommen hat? Sind "4-6 Stunden OP-Dauer" besorgniserregend oder einfach ganz normal? Ich weiß es nicht und möchte mich auch nicht weiter damit beschäftigen. Vorgestern war noch alles in Ordnung, wir haben nochmal telefoniert, aber uns nicht verabschiedet. Warum denn auch, es kann schließlich alles nur gut gehen... oder?
Gestern die ersten Nachrichten direkt nach der OP: Alles gut verlaufen, wie geplant und in irgend etwas zwischen viereinhalb und fünf Stunden. Heute der erste Besuch. Beim Betreten des Krankenhauses kommen einem überall Zwerge entgegen: Frisch geschlüpfte Mini-Menschen auf dem Arm von Mama oder Papa. Einfach nur süß. Die unpassende Station dagegen ist gut abgeschirmt: Ein kleines Wartezimmer, ein Telefon und ein Schild: Man möge sich telefonisch anmelden und würde dann abgeholt, dazu eine (hausinterne) Telefonnummer.
Meine Begleitung (ok, eigentlich bin ich eher die Begleitung) wählt, meldet sich, fragt nach Name und Zimmernummer - und wird unruhig. Kurz darauf ist das Gespräch beendet und ich erfahre den Grund: Die Schwester am Telefon meinte, das in dem Zimmer gerade viel Action wäre und sie nicht wüsste, ob wir dort rein dürften. Sie würde unseren Besuchswunsch aber an eine entscheidungsbefugte Person weiterleiten und die würde dann zu uns kommen.
In meinem Kopf entstehen Gedanken und Bilder, die ich nicht möchte, aber doch nicht verdrängen kann. Gebildet durch jahrelangen gelegentlichen Konsum unterschiedlicher Arztserien kann es nur eine Möglichkeit für "viel Action" in einem Intensivstationszimmer geben: "Code blau" - Reanimation, Defibrilator, Menschen, die verzweifelt um ein Leben kämpfen - und in aller Regel schließlich verlieren. Die Action ist dort, auf der anderen Seite der verschlossenen Tür, ein paar Zimmer weiter - und doch unerreichbar. Außerdem weiß ich nicht, ob ich wirklich dort sein möchte.
Plötzlich geht die Tür auf - und ein älteres Ehepaar kommt heraus, grüßt uns und verlässt das Durchgangs-Wartezimmer. Zurück in die heile Welt zu all den glücklichen frischgebackenen Eltern und ihren Schlüpflingen. Die Tür fällt wieder zu. Minuten verstreichen und wir versuchen uns durch belanglosen Smalltalk abzulenken... die Tür geht wieder auf. In meinem Kopf sehe ich einen Arzt uns nach verlorener Schlacht mit ernstem Gesicht gegenüber treten, aber es ist nur eine junge Frau, vielleicht Mitte 20. Sie wirkt gemäßigt gut gelaunt - ihrem Besuchsgrund scheint es den Umständen entsprechend gut zu gehen. Und unserem?
Eine scheinbar endlose Viertelstunde nach der Anmeldung geht die Tür erneut auf und eine Krankenschwester fragt nach "Besuch für ..." - endlich. Sie scheint nicht besonders aufgeregt oder kühl zu sein. Anscheinend ist sie eine der Entscheidungsbefugten, denn sie bittet uns herein, führt uns den Gang entlang. Auf die vorsichtige Frage nach dem Zustand antwortet sie freundlich, professionell - und unwissentlich alle Befürchtungen zerstreuend: "Das kann ... ihnen gleich selbst sagen, er/sie ist wach und kann sprechen." (Wie schon in vorherigen Posts geschrieben, hat die Identität - und auch das Geschlecht - nichts im Internet verloren.) Erleichterung vertreibt alle düsteren Gedanken und schon sind wir da. Ich weiß nicht, welche Schwester urspünglich am Telefon war und das ist vielleicht auch gut so, denn die Sensibilität einer Dampfwalze ist auf einer Intensivstation ziemlich unangebracht.
Im Zimmer wartet eine positve Überraschung: Zwar sind überall alle möglichen Schläuche und so ziemlich jede Körperstelle, an der man einen Zugang legen kann, ist auch mit einem versehen, an dem irgendetwas angeschlossen ist. Neben dem Bett steht ein monströses Gestell für 15 Infusionspumpen (von denen allerdings nur zwei in Betrieb waren), diverse Beutel hängen hier und dort, aber das ist alles nicht unerwartet. Im Bett liegt eine Person in erstaunlich gutem Zustand, berücksichtigt man die gerade mal einen Tag zurückliegende OP.
Die Sprache ist noch recht leise - kein Wunder, wenn man mehr als 24 Stunden intubiert war - aber klar und verständlich. Nicht die leisesten Anzeichen von einem medikamentenumnebelten Geist, aber keine Schmerzen - die Schmerzmittel scheinen gut dosiert zu sein. Die "Action", so stellt sich jetzt heraus, bestand anscheinend nur im Entfernen des Tubus. Ich bin froh, auch - so gemein es sich anhören mag - weil mir dieser Anblick erspart geblieben ist. Trotzdem hätten wir auf die düstere Ungewissheit verzichten können, die Schwester Dampfwalze uns bereitet hat.
Das Gröbste scheint überstanden zu sein. Der Krebs ist weg - hoffentlich. Genaueres wird sich wohl frühestens morgen, vermutlich aber eher nächste Woche ergeben und ob der Krieg oder nur eine Schlacht gewonnen ist, wird erst die Zeit zeigen.
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