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Gedanken zu Amanda Todd

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Erst kürzlich habe ich aus ganz anderen Gründen über Internet-Sicherheit und Anonymität gebloggt, da erinnert mich jemand in einem anderen Zusammenhang an Amanda Todd, ein junges Mädchen die ihr Leben mit Hilfe des Internets zerstört hat. Was jetzt passiert, grenzt an Leichenfledderei, denn jeder nutzt ihre Story für seine Zwecke.

Die Welt berichtet über Amanda's Geschichte und die grausamen Folgen. Ich möchte mit diesem Post warnen, aber auch kommentieren und meine Sicht der Ereignisse zeigen, diese mag für den einen oder andere schockierend sein, aber es ist meine Meinung und zumindest offline steht diese jedem Einzelnen in unserem Staat zu. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen vor Ewigkeiten (in Internet-Zeit, real waren es etwa 6 Wochen) veröffentlichten Bericht jetzt noch kommentieren sollte.

 

Kurz zusammengefasst hat Amanda sich einen Online-Freundeskreis aufgebaut, sich irgendwan zum Versand eines oben-ohne-Fotos überreden lassen und wurde daraufhin mit diesem erpresst und terrorisiert, Mobbing der schlimmsten Art (und ich vermeide an dieser Stelle absichtlich den Begriff Cybermobbing). Etwa ein Jahr später hatte sie eine kurze Affäre mit einem alten online-Freund über die seine Freundin nicht allzu begeistert war - die nächste Mobbing-Kampagne war geboren. Im Zuge beider Vorfälle wechselte sie mehrfach Schule und Wohnort, blieb aber immer online, bis schließlich ihr zweiter Selbstmordversuch erfolgreich endete. Die ganze Geschichte erzählt Sie in einem Video:

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=ej7afkypUsc&feature=player_embedded[/youtube]

 

Das Video und die nachträglich veröffentlichten Artikel geben nur einen kleinen Teil der Wahrheit wieder. Nur wenige kannten sie persönlich und wissen, was versucht wurde um ihr zu helfen - oder ob überhaupt etwas versucht wurde. Wie jede Internet-Story muss auch diese den Gedanken zulassen, ob sie überhaupt wahr oder nur eine gut gemachte Werbeaktion gegen Cybermobbing ist - so sehr abwegig wie es auf den ersten Blick scheint, ist die Idee gar nicht.

Amanda ist - bei allem was sie durchmachen musste - immer wieder ins Internet und zu Facebook zurückgekehrt. Ganz am Anfang des Videos berichtet sie, dass sie (nur?) dort echte Freunde hatte, die ihr Komplimente machten und sie - zumindest vorgeblich - mochten. Hat dieser Online-Freundeskreis dazu beigetragen, dass sie weniger Offline-Freunde gefunden hat? Förderlich war er bestimmt nicht für die ReaLife-Freundschaften, wenigstens in diesem Punk bin ich sicher.

Allerdings hat sie zu keinem Zeitpunkt aus den Erfahrungen gelernt - um so mehr die Online-Gemeinde sie gedemütigt hatte, um so eher ist sie dahin zurückgekehrt, weil jede Online-Aktion auch den Verlust der RealLife-Freunde mit sich brachte. Warum - und das ist für mich die entscheidende Frage - ist sie immer wieder zu Facebook zurückgekehrt? Die Antwort kann ich mir fast schon selbst geben: Klar sucht man dort nach Freunden und Anerkennung, wo man sie in der Vergangenheit gefunden hat.

Wer ist schuld an ihrem Tod? Zu einem gewissen Teil - auch wenn diese Ansicht bestimmt nicht gesellschaftsfähig ist - sie selbst und natürlich  - ab hier wird es wieder gesellschaftstauglich - der Internet-Nutzer, der den - neudeutsch - Shitstorm über sie gebracht hat, ebenso die betrogene Freundin, die ihr den Selbstmord nahegelegt hat (hey Mädel, es war Dein Freund der sich 'ne andere gesucht hat, was sagt das über ihn und Eure Beziehung aus?). Allerdings auch die hunderte Mitschüler, die ihr das Offline-Leben zur Hölle gemacht haben und die Lehrer - und möglicherweise auch Eltern - die nicht verstanden haben unter was für einer Belastung Amanda stand oder es nicht geschafft haben, diese zu bewältigen - es wäre ihre Aufgabe gewesen.

 

Wenn Kinder gemobbt oder ausgegrenzt werden, dann müssen Eltern und Lehrer einschreiten, denn - und das wird meiner Meinung nach wirklich immer unterschätzt - wenn die "Erwachsenen" Wind von so etwas bekommen, sehen sie nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Nimm das, was Du siehst, hörst oder liest, multipliziere es mit Arbeit, Familie und Freundeskreis und Du kannst vielleicht im Ansatz ermessen, was diese Kids erleiden.

Natürlich gibt es auch Fälle, in denen von vermeidlichen Opfern gelogen und maßlos übertrieben wird und diese sind schwer zu erkennen. Ich habe keine Lösung, keine goldene Regel, wenn allerdings die ganze Schule ein intimes Foto einer Schülerin per Email erhält, hätten alle Alarmglocken läuten müssen. Wie schon gesagt - kaum einer weiß, was tatsächlich passiert ist und wie die Abläufe waren, vielleicht wurde geholfen und der Hilfsversuch ist gescheitert.

Ich habe selbst ein paar Online-Bekanntschaften die - wie schon geschrieben - zum Teil selbst mit sehr starken Problemen zu kämpfen haben (deren Ursachen allerdings in der Offline-Welt liegen). Eine dieser Personen fragt mich alle paar Wochen "warum machst Du das", "warum bist Du für mich da", "warum versuchst Du mir zu helfen" - und ich habe keine Antwort. Nicht, weil ich sie nicht geben oder verheimlichen möchte, sondern weil ich sie nicht kenne - mittlerweile sind es auch nur noch rhetorische Fragen.

Ich denke, dass kein Kind - und dabei gehe ich nicht unbedingt vom tatsächlichen Alter aus - Dinge erleben sollte, die zu ernsthaften Selbstmordversuchen oder -gedanken führen. Kinder werden - so scheint es - in unserer Welt immer mehr alleine gelassen, sind auf sich gestellt obwohl es häufig schon ausreichen würde, wenn sie darüber reden könnten. Hätte das Amanda geholfen? Vielleicht hätte ihr eine Offline-Bezugsperson, ein "Freund" (geschlechtsneutral) ermöglicht, eine gesunde Distanz zur Online-Welt aufzubauen, vielleicht auch nicht.

Kaum war die Chance da, stürzten sich alle möglichen und unmöglichen Leute auf die Geschichte um sie bestmöglich für ihre Zwecke auszuschlachten. Die Forderung wurde laut, es müsse mehr gegen Cybermobbing getan werden - dabei hätte das nicht geholfen. Gut, das Foto wurde elektronisch an alle Schüler ihrer Schule verschickt, aber jeder mal ein, zwei Minuten über seine Schulzeit nachdenkt - wäre es nicht auch mit wenig Aufwand und Entdeckungsrisiko möglich gewesen, das Foto hundertfach zu kopieren und überall in der Schule aufzuhängen? Oh, eine Kopie im Briefkasten der Eltern hätte bestimmt auch Spaß gemacht. Online geht so etwas zwar schneller, aber offline wäre die Aktion auch kein Problem gewesen, wenn der Täter schon entschlossen genug ist, sie durchzuziehen.

 

Offline entstand ihre Isolation und offline ging das Mobbing weiter. Gegen Cybermobbing gibt es eine ganz einfache Möglichkeit: Das eigene Profil von Facebook löschen und den Computer nur noch zum sammeln von Informationen, aber nicht mehr zur Verbreitung eigener nutzen. Ja, es gibt tatsächlich ein Leben ohne Facebook, das funktioniert und es ist noch keine daran gestorben. Die zweite Mobbingwelle entstand ebenfalls offline, sie wurde zusammengeschlagen und - wie in unserer Welt mittlerweile anscheinend üblich - alle haben zugeschaut, aber keiner hat eingegriffen. Vielleicht haben einige die Szene für YouTube festgehalten - Hilfe für das Opfer hätte dabei natürlich Video versaut und für weniger Klicks gesorgt. That's life.

Offline hätte etwas getan werden müssen, dann wäre das Foto (vielleicht) verpufft ohne dass sich lange jemand dafür interessiert hätte, vielleicht abgesehen von ein paar kleinen Jungs die aber viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wären und unter keinen Umständen Amanda daran teilhaben lassen hätten...

Die selbsternannte "Hackergruppe Anonymous" - Liebling der Medien - hat noch weniger verstanden. 100% fail auf Neudeutsch, wenn nicht noch mehr. Sie haben Name und persönliche Daten von Amandas Erpresser (der das Foto veröffentlicht hatte) ins Internet gestellt und damit den gleichen "Shitstorm" ihm gegenüber ausgelöst. Schade auch, dass es anscheinend der falsche war. Diese Kiddies haben mit echten "Hackern" so viel gemeinsam wie McDonalds mit dem Weihnachtsbraten, honoriert werden werden dort Verantwortungslosigkeit, möglichst großer Schaden und Intelligenzabwesenheit, die Werte und selbst auferlegten Regeln wie sie der Chaos Computer Club seinerzeit gepflegt hatte, sucht man dort vergeblich. Damals ging es um technische Fähigkeiten, kreative Ansätze - und letztendlich um die Verbesserung der Sicherheit, heute geht es nur noch um Publicity und darum, möglichst vielen Leuten möglichst großen Schaden zuzufügen. Zurück zum Thema.

Was lernen wir aus Amanda's Geschichte? Traurige Geschichten sind gut für die Medien, können vielleicht sogar ein paar Tage Gesprächsthema werden. Um so eher eine Geschichte Kopfschütteln hervorruft, ein "mir kann das nicht passieren"-Gefühl oder auch eine "das kann meinen Kindern nicht passieren"-Sicherheit. Genau das ist falsch und gefährlich. Leider habe ich kein Patentrezept, keinen Lösungsansatz, höchstens einen Ratschlag (bei dem ich hoffe, dass ich ihn selber befolgen werde): Achtet auf Eure Kinder, Eure Freunde. Nehmt ihre Sorgen und ihre Probleme ernst und seit ein Ansprechpartner, eine Vertrauensperson. Das ist bestimmt leichter gesagt als getan - aber auch nicht unmöglich.

 

5 Kommentare. Schreib was dazu

  1. "Achtet auf Eure Kinder, Eure Freunde. Nehmt ihre Sorgen und ihre Probleme ernst und seit ein Ansprechpartner, eine Vertrauensperson."


    Diesem Satz kann ich nur zustimmen. Du hast einen langen Text verfasst und dich ausführlich mit dem Thema auseinandergesetzt. Auf jeden Fall sollte man darüber nachdenken und nicht einfach so im Tagesgeschäft weitermachen.

  2. Wahre Worte, die du hier schreibst.
    Amandas Geschichte ist sehr bewegend und es ist mehr als traurig und beschämend, dass sowas passieren und an die Öffentlichkeit geraten muss, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
    Erschreckend, in was für einer Gesellschaft wir doch leben.

  3. Sebastian

    So besonders erschreckend finde ich es nicht. Kinder sind grausam, das fängt im Kindergarten an, nur da sind die Folgen noch wesentlich kurzfristiger. Am erschreckensten finde ich das erfolgreiche Offline-Mobbing, hier hätte diese Gechichte schon sehr früh eine positive Wendung erfahren können. Ein Oben-Ohne-Foto - na und? Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Teenies Nacktfotos machen, die dann ihren Weg zu Mitschülern finden, nur das, was in der Schule draus gemacht wurde, hat es doch so schlimm gemacht.

  4. Am schlimmsten jedoch ist, dass nun weiterhin Menschen irgendwelche "möchtegern-lustigen"-bilder mit blöden Sprüchen erstellen... und weiter auf ihr herumreiten.


    Das ist halt unsre kranke Welt.

  5. Eine sehr traurige Geschichte.
    Die einige Probleme der i-net Generation offenbart. Die sozialen Kontakte (ich meine die echten) werden heruntergefahren und durch Cyberkontakte ersetzt. Ist man dann einmal in seiner Internetsucht gefangen und findet keinen Weg heraus kann dann so etwas geschehen.
    Zumal das Offlinemobbing wie Du es so schön umschreibst, heute ja Gang und Gebe ist und um den guten Ruf der Schule zu wahren lieber abgestritten denn bekämpft wird.

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